Quantcast
Channel: Golem - Journeys through the Other Space » Postmoderne
Viewing all articles
Browse latest Browse all 3

In Soviet Arcadia

0
0

In seinen berühmten Thesen über den Begriff der Geschichte bemerkte Walter Benjamin einmal, dass die historische Artikulation des Vergangenen nicht den Versuch bedeuten könne, etwas so zu zeigen, wie es denn vermeintlich »eigentlich gewesen sei«, sondern vielmehr heiße, sich einer “Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt,” d.h.  sets die “Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.” (GS Bd. I/2, S. 695) Bei der Lektüre von Francis Spuffords aktuellem Roman RED PLENTY scheint es fast so, als hätte sich der Autor dieses Diktum zum Programm gemacht. Durch die Zeit zurück über den nun gefallenen eisernen Vorhang blickend, entdeckt er in der Sowjetunion der 1960er Jahre eine lebendige Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die die dunklen Jahre des Großen Vaterländischen Krieges und der stalinschen Terrorherrschaft selbst nicht mehr miterlebt hatten und deren Ambitionen und Hoffnungen sich auf eine Zukunft richteten, deren Potential gerade erst erahnbar geworden war.

Als es für eine kurze Zeit auf beiden Seiten des eisernen Vorhanges so aussah als könne der Sozialismus in der Sowjetunion nach den langen Jahren des Mühsals und der Not endlich die Hoffnungen verwirklichen, nach denen die Oktoberrevolutionäre erstrebt hatten, die Welt aus den Angeln zu heben und die Versprechen einlösen, mit denen die stalinistische Bürokratie die Menschen über die zahlreichen Entbehrungen und Verfolgungen hinweg vertröstet hatte,  enstand  unter den jungen und gebildeten sowjetischen Intellektuellen eine neue Utopie, die zum Greifen nahe zu sein schien. Das ungeheure Wirtschaftswachstum dieser Zeit gebar die reale Aussicht auf gesicherten materiellen Wohlstand für die Masse der Bevölkerung, Chruschtschows Agenda einer relativen kulturellen und außenpolitischen Öffnung versprach neue Räume der Kommunikation und Selbstentfaltung und – das ist womöglich das wichtigste – die Abhängigkeit dieses Prozesses von gut ausgebildeten Mathematiker_innen, Physiker_innen, Techniker_innen und Ökonom_innen versprach der neu entstehenden Intelligenzia wirkliches Teilhabe an einem einem zukunftsweisenden gesellschaftlichen Projekt. Fredric Jameson weist in seiner lesenswerten Besprechung des Buches (New Left Review 75), der ich auch den Titel für meinen kleinen Beitrag hier gemopst habe, darauf hin, dass es gerade eine der großen Besonderheiten von Spuffords Buch ist, diese Hoffnungen und Träume in ihrer Stärke und Ausdruckskraft wie in einer Zeitkapsel aufzubewahren und sie durch die historische Erfahrung des Scheiterns hindurch wieder zugänglich zu machen. Wo man sonst als Leser_in eines Romans im Prinzip schon von vornherein erwarten muss, dass die Zuversicht sich als illusorisch erweisen muss und den hehren Ansprüchen nicht Genüge getan werden kann, hält Spufford an ihnen fest. RED PLENTY geht es nicht darum zu zeigen, wie Luftschlösser einstürzen und Träume in sich zusammenfallen, sondern darum ein “Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich [...] dem historischen Subjekt unversehens einstellt.” (Walter Benjamin, GS Bd. I/2, S. 695)

Um dies zu bewerkstelligen leistete Spufford eine beachtliche und umfangreiche Recherchearbeit. Mehr als 50 Seiten mit Anmerkungen, Erläuterungen und Randnotizen, sowie eine beachtliche Bibliographie schließen sich an den Haupttext des Buches an. Spufford recherchierte zur Geschichte der Juden in der Sowjetunion, sowie zur ambivalenten Situation von Frauen oder zur widersprüchlichen Rolle von Kunst und Kabarett. All diese Dinge verarbeitet er mit einer bemerkenswert Sensibilität für die Alltagserlebnisse der auftretenden Figuren. Da sich die zahlreichen Endnoten selbst schon wie ein Fließtext lesen lassen und kaum vom Rest der Geschichte getrennt oder lediglich für einen nebensächlichen Nachtrag genommen werden können, setzt sich in ihnen ein Problem fort, dass einem beim Lesen des Buches schon von Anfang an begegnet, nämlich das der Formbestimmung. Spuffords Erzählung lässt sich auf den ersten Blick als klassischer historischer Roman missverstehen, aber die fragmentarisierende Zerstückelung des Textes, die leichte Asynchronizität der erzählten Bruchstücke und das schwer zu fassende Ineinandergreifen verschiedener – üblicherweise strikt voneinander getrennter -  Textteile machen eine solche Kategorisierung von vornherein problematisch. RED PLENTY erzählt weniger die Geschichte eines bestimmten Protagonisten, sondern hält in Momentaufnahmen die kulturellen und politischen Eindrücke und Erfahrungen eines ganzen Ensembles von (real historischen und fiktiven) Figuren fest, deren gesellschaftliche und persönliche Situationen jeweils ganz einzigartig sind und doch vom utopischen Motiv der Erzählung in eine gewisse Totalität eingebettet werden. Spufford, der sich dieser Schwierigkeit bewusst ist, beginnt daher gleich auf Seite 1 mit einer dementsprechenden Erläuterung:

This is not a novel. It has too much to explain, to be one of those. But it is not a history either, for it does this explaining in the form of a story; only the story is a story of an idea, first of all, and only afterwards, glimpsed through the chinks of the idea’s fate, the story of the people involved. The idea is the hero. It is the idea that sets forth, into a world of hazards and illusions, monster’s and transformations, helped by some of those it meets along the way and hindered by others. Best to call it a fairytale, then – though it really happened, or something like it.

Mit diesem Verweis auf das Märchenhafte, bringt er das Wesentliche damit schon von Anfang an auf den Punkt. Gerade als eine Art postmodernes Märchen erhält die Erzählung eine Form, die es ihr ermöglicht den “sowjetischen Traum” gegen den Konformismus der erkalteten Wirklichkeit zu bewahren, ohne den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und die realen politischen Zustände zu verlieren, die mit ihr in Konflikt treten. Zu erwähnen wäre allerdings auch, dass die Charaktere in Spuffords Erzählung tatsächlich nahezu ausschließlich Intellektuelle und Akademiker_innen sind. Über jene Kreise der sowjetischen Gesellschaft, die von den hoffnungsvollen Entwicklungen ausgeschlossen waren und denen eine Teilhabe an ihnen durch ihre Stellung in der hierarchischen Arbeitsteilung verwehrt blieb, erfährt man so gut wie nichts.

Übrigens dürfte die Lektüre von RED PLENTY auch für Liebhaber_innen des Science Fiction Genres von einigem Interesse sein, da sich Spufford hier gleich in vielerlei Hinsicht bedient hat. Er selbst bemerkt dazu auf der Website zum Buch:

Red Plenty is very science-fictional in its form and its methods. I learned a lot from non-Soviet SF about how to represent the pleated and knotted fabric of a society alien to the reader – and one book in particular, Kim Stanley Robinson’s Red Mars trilogy, directly influenced the shape of Red Plenty with its switching points of view and its italicised inter-chapters. Soviet SF was most use to me as a source for moods and voices. In the USSR writers of science fiction had the future as a semi-official responsibility. Whatever they invented, they were expected to endorse the radiance to come. But since the future, in Soviet SF as in every other kind, is a refraction of the present anyway, the scope was large for sly commentary on the present, and deniable ironisation of it on terms far freer than in realist Soviet literature, especially when the SF was being written by the brilliantly self-possessed Arkady and Boris Strugatsky.

Spuffords großes Verdienst besteht letztlich darin, die historischen Erfahrungen einer bestimmten Generation von sowjetischen Jugendlichen wieder fassbar gemacht zu haben, die in den Wirren des Kalten Krieges und den Nachbeben des Scheiterns des sowjetischen Staatssozialismus beinahe verloren gegangen waren. Gerade die spannende Form seiner Erzählung ermöglicht es ihm dabei an alltägliche Erlebniswelten anzuknüpfen und dem utopischen Impuls darin nachzuspüren, ohne den kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Zeit einzubüßen. Es ist die Stärke von RED PLENTY im Versagen der Utopie keine persönliche Schwäche ihrer Utopist_innen zu erkennen, sondern einen Gedanken der nicht zur Wirklichkeit kam, weil die damalige Wirklichkeit sich weigerte zum Gedanken zu kommen. (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 675) Die ambitionierte Hoffnung darauf, dass die explosionsartige Entwicklung der Produktivkräfte automatisch auch die politischen und sozialen Missstände beheben bzw. überflüssig machen würde, musste sich als Sackgasse erweisen, die Hoffnung in das Produktionsparadies enttäuscht werden. Dennoch zeichnet die Wiederbegehbarmachung dieses konkreten utopischen Projekts ein Bild des sozialen Lebens in der Sowjetunion, das lange Zeit von den Glorifizierungen auf der einen und den Schreckensgeschichten auf der anderen Seite verstellt worden war.

 

Francis Spufford: Red Plenty, 434 S.
Faber & Faber, London, April 2012


Viewing all articles
Browse latest Browse all 3

Latest Images

Trending Articles





Latest Images